Passo delle Plattigiole – Kleiner Scorluzzo
Beim Aufstieg zum Scorluzzo verlassen wir nach erreichen der ersten Höhenstufe den offiziellen (rot-weiss-markierten) Wanderweg und halten uns rechts, um nur wenige Meter später eine auffallendes Plateau zu erreichen. Dabei überschreiten wir erstmals ein, quer zur Auffangstellung auf dem Passo delle Plattigiole verlaufendes Grabensystem und stossen auf Einschlagkrater, welche den Beschuss italienischer Artillerie bezeugen.
Das Grabensystem gehört zur Flankenstellung des Passübergangs und es bedarf keiner Phantasie, sich deren Verlauf im Kontext des taktischen Denkes zu interpretieren, wenn man sich nachfolgenden Grundsatzes bewusst wird.
Stellen Sie sich ein Hufeisen vor oder auch ein liegendes „U“. Dessen Basis (also der Bogen) befindet sich in der Auffangstellung – die beiden Seiten sind in Richtung des Gegners ausgelegt. Wer nun dieses „Hufeisen“ besetzen konnte war in der Lage, gleichzeitig aus drei Richtungen auf den Gegner einzuwirken. Mit diesem Bild im Hintergrund werden Sie in der Folge jeden Verlauf irgendwelcher Stellungssysteme verstehen können. Gut zu wissen: derartige „Hufeisen“ gab es in unterschiedlichsten Grössen. Also ganz kleine, schmale und auch sehr grosse, breite „U“s. Aber das Prinzip war immer das gleiche. Und noch wichtiger zu wissen: auch die Italiener wendeten diese Taktik der Stellungswahl an.
Die artilleristischen Spuren wiederum zeigen das Bestreben eines Angreifers, eben diese Stellungen niederzuhalten, damit ein Angriff ohne direkte Feuerwirkung des Gegners überhaupt möglich war.
Stellungsplan des „Kleinen Scorluzzo“, wiedergegeben nach einer Originalskizze des Kommandanten der Ortlerfront, Moritz Freiherr von Lempruch. Darstellung: David Accola nach Originalakten aus dem Archiv Schaumann, Wien.
Am östlichen Rand des Plateaus – in obiger Darstellung als „Kaverne“ bezeichnet – stossen wir auf betonierte Fundamente der Seilbahnstation. Über diese Transportseilbahn wurde der Scorluzzo-Stützpunkt ab dem Stilfserjoch (in der Darstellung als „Ferdinandshöhe“ bezeichnet) versorgt. Beton war ein rares Gut und wurde nur dort verbaut, wo dies aufgrund der benötigten Festigkeit zwingend notwendig war.
Der eigentliche Stützpunkt auf dem Gipfel des „Kleinen Scorluzzo“ war zweiseitig ausgerichtet. Ab hier konnte sowohl das Vorfeld des Stilfserjoch-Übergangs auf der Braulio-Seite (Norden) mit Feuer belegt, als auch einem Angriff aus dem Valle dei Vitelli (Süden) begegnet werden.
Den Gipfel des „Grossen Scorluzzo“ erreichen wir über den offiziellen Wanderweg. Dieser verläuft steil entlang des linken (südlichen) Grats und folgt exakt dem ehemaligen Verbindungsgraben vom „Kleinen-“ zum „Grossen Scorluzzo.
Grosser Scorluzzo
Unmittelbar nach Kriegsausbruch – also Anfang Juni 1915 – besetzten Patrouillen der Alpini den Gipfel. Dieser befand sich schon damals auf italienischem Territorium und gewährte den Einblick hinter die nun umkämpfte Grenze ins Trafoi-Tal. Österreichische Bewegungen konnten, gutes Wetter vorausgesetzt, frühzeitig erkannt werden.
Landesverteigung aus Wiener Sicht
Die Verteidigungsabsicht Östtereich-Ungarn basierte bis zu Kriegsausbruch darauf, einem Vorstoss der Italiener erst in den Talniederungen entgegenzutreten, keines Falls aber auf den Höhenzügen der eigentlichen Landesgrenze. Die zwischen 1860 und 1862 errichtete „Strassensperre Gomagoi“ (an der Einmündung des Suldentales ins Trafoital) drängte sich aus Sicht des österreichischen Generalstabes dazu auf und entsprechend vorbereitete Verteidigungslinien lehnten sich an dieses Sperrwerk an. Das war aber „Vorkriegsdenken“ und wurde von der neuen Situation überholt.
Für detailliertere Ausführungen zum Verteidigungsdispositiv Österreichs sei auf den entsprechenden Artikel auf der Seite „Kleinboden“ verwiesen.
Landesverteidigung aus Tiroler Sicht
Die zur Landesverteidigung aufgebotenen Standschützen beurteilten dies als groben Fehlentscheid Wiens, kamen sie doch aus der vom Kriegsausbruch unmittelbar betroffenen Region. Sie bewirtschafteten Bauernhöfe und Alpwirtschaften in Grenznähe, welche nun – der Wiener Absicht folgend – kampflos abgetreten werden sollten. Dies widersprach ihrer Vorstellung von Landesverteidigung in gröbster Weise. „Unser Landl beginnt an der Grenz‘ – nicht dort wo es die Wiener gerne hätte“ – entsprach der weit verbreiteten Meinung der lokalen Bevölkerung – und dies sollte Folgen haben.
Andreas Steiner’s Stosstruppunternehmen
Am 4. Juni 1915 entschied sich der Gendarmerie-Rittmeister Andreas Steiner zu einem Unternehmen, welches den Kriegsverlauf an der Ortlerfront massgeblichst beeinflussen sollte. Mit ca 40 Mann, aufgeteilt in drei Gruppen verdrängte er die Italiener vom Gipfel des Monte Scorluzzo. Dieser Angriff fand bei schlechter Sicht statt und wurde durch einen Artilleriebeschuss ab der Goldseestellung eingeleitet. In der Folge wurde der Scorluzzo dauerhaft besetzt und blieb bis Kriegsende im Besitze Österreichs. Was in der späteren Berichterstattung als heroische Tat beschrieben wurde, fand jedoch während der ersten Kriegstage kaum Beachtung.
Das Tagebuch des Zuständigen Kommandos für die Verteidigung des Ortlerabschnitts vermerkt für den 4. Juni 1915:
„Die von den Italienern am Scorluzzo ausgebaute Unterkunftshütte wurde von der eigenen Artillerie zusammengeschossen. Nach Rückzug der Italiener fand unsere Patrouille Schlafsäcke, Mäntel, Kochgeschirr etc.
Die bei der III. Cantoniera gemeldete Abteilung zog sich weiter gegen Bormio zurück.
Auf Bochetta di Forcola wird an der Herrichtung der Stellung gearbeitet.
Ansonsten unverändert.“
Der Eintrag im Tagebuch lässt schliessen, dass es sich bei der Besetzung des Scorluzzo also nicht um einen infanteristischen Angriff im klassischen Sinne gehandelt haben kann. Die italienischen Truppen zogen sich aufgrund des Artilleriebeschusses vom Gipfel zurück, worauf dieser durch das Detachement Steiner kampflos besetzt wurde.
Besetzung der Höhenstellungen
Die Besetzung des Scorluzzo sollte zur Folge haben, dass nun die ganze Verteidigungslinie Österreichs verschoben werden musste. Ursprüngliche Sperrstellungen wurd desarmiert und die Geschütze auf den dominierenden Höhen in Stellung gebracht, so auf dem Monte Livrio, der Naglerspitze und natürlich auf dem Gipfel des Scorluzzo.
Der Gipfelstützpunkt auf dem Scorluzzo nach einer Skizze von Moritz von Lempruch. Darstellung: David Accola nach Originalakten aus dem Archiv Schaumann, Wien.
Der Gipfelstützpunkt
Mit Erreichen des höchsten Punkts des Monte Scorluzzo stossen wir zunächst auf die Überreste der kavernierten Unterkunft, die auf obiger Skizze mit Nr. 1 bezeichnet ist. Lempruch bezeichnet es als Unterkunft eines „Schwarms“ was im heutigen militärischen Sprachgebrauch etwa der Stärke einer „Gruppe“ (also 8-10 Mann) entspricht.
Leicht zu erkennen ist der Verlauf des nördlichen Lauf- und Kampfgrabens. Die übrigen Kampfinfrastrukturen sind nur sehr schwierig im Gelände zu lokalisieren. Die Kavernen sind eingestürzt und auch deren Zugänge kaum mehr auffindbar.
Wenn wir Lempruchs Angaben zur verfügbaren Unterkunftskapazität (zwei Züge und drei Gruppen). addieren, lässt sich der Mannschaftsbestand auf dem Monte Scorluzzo auf eine schwache Kompanie (rund 90 Mann) berechnen.
Abstieg zum Filone del Mot
Der Abstieg vom Gipfel erfolgt über den südwest-orientierten Grat zum Filone del Mot. Auch hier stossen wir auf österreichische Stellungen, welche zum Schutz des Gipfelstützpunkts errichtet wurden. Während sich die Wegstrecke heute mehrheitlich nach dem Gratverlauf richtet, mussten die österreichischen Soldaten mit aller Vorsicht danach trachten, sich nicht auf dieser Kammlinie sehen zu lassen. Diese war ab den italienischen Stellungen auf dem Filone del Mot problemlos einsehbar und jede Bewegung liess sich – gute Sicht vorausgesetzt – sehr genau beobachten. Eine Feuersalve der Alpini war dann das logische Resultat dieser Beobachtung.
Am Fuss des kompakten Felsaufbaus stossen wir auf die letzten Spuren der Standschützen, auf die Feldwache. Diese zu finden ist einfach. Spätestens beim Überschreiten der nachwievor vorhandenen Drahthindernisse (heute am Boden liegend) haben Sie deren Standort passiert. Dieses Drahthindernis verlief quer zum Grat und wurde bis in die Mitte der Westflanke des Scorluzzo gezogen.
terra di nessuno – das niemandsland
Die rund 300 Meter (Luftlinie) zwischen der österreichischen Feldwache am Fuss des Gipfelaufbaus und dem ersten Stützpunkt der Italiener am Filone wird als „Niemandsland“ bezeichnet. In dieser Zone gab es weder Stützpunkte noch Hindernisse – aber diese Bewegungszone war äusserst „bleihaltig“. Annäherungen an gegnerische Stellungen hatten nur dann Erfolgschancen, wenn der Gegner nichts sah, schlief oder den oftmals widrigen Witterungsverhältnissen trotzen musste; also bei Nebel, Nacht oder Sturm.
ENTLANG DES FILONE DEL MOT
Monte Cristallo – Hohe Schneid
Auf dem Weg entlang des Filone beherrscht linkerhand die markante Siluette der Hohen Schneid (ital. Monte Cristallo) den Blick. Der Felsgipfel (rechts) wurde im Oktober 1916 durch die Italiener besetzt und mittels einer Seilbahn erschlossen. Dadurch ergab sich für die Alpini die Möglichkeit, den österreichischen Stützpunkt auf dem Monte Scorluzzo unter Feuer zu nehmen.
Im Winter 16/17 gruben die Österreicher entsprechend einen Angrifftunnel von der Naglespitze durch den den Cristallo-Gletscher und die damals viel mächtigere Eiswand und besetzten am 17. März den Eisgipfel.
Auf Steinwurfdistanz lagen sich nun die Vorposten der Standschützen und Alpini gegenüber und es lässt sich unschwer vorstellen, dass auf dieser eisigen Warte der Krieg in anderer Form geführt wurde, als dies in Rom und Wien erwartet wurde. Anekdoten erzählen von einer Fraternisierung der Gipfelbesatzungen die auch mal den Austausch an Lebensmitteln zur Folge hatte.
Darstellung der österreichischen – und italienischen Stellungen auf der Hohen Schneid (Stand: Herbst 1918). Publiziert mit freundlicher Genehmigung des Kaiserjägermuseums Innsbruck.
DER ITALIENISCHE STÜTZPUNKT AUF DEM FILONE DEL MOT
Wir folgen dem Wanderweg entlang des Grats um den Infanteriestützpunkt auf dem Filone zu besuchen. Der Weg ist in auffallend guten Zustand, wird er doch hangseitig von solidem Mauerwerk abgestützt. Wären Sie vor über 100 Jahren dieser Strecke gefolgt: Sie hätten nichts gesehen – und wurden (noch besser) nicht gesehen. Der Wanderweg folgt dem damals gedeckten Zugangsgraben zur Feldwache, welche Sie vorhin passiert haben.
Unmittelbar vor dem letzten Grataufschwung des Filone verlassen wir den offiziellen Weg und umgehen diesen linkerhand. Wenige Meter unterhalb des Grats stossen wir auf einen eindrücklichen Laufgraben, welcher zu besagtem Stützpunkt auf dem Filone führt.
Beobachtungsunterstand beim Filone-Stützpunkt mit dem Monte Scorluzzo im Hintergrund.
VOM FILONE NACH „MACHU PICHU“
Unmittelbar nach dem Filone-Stützpunkt verlassen wir die Kampfstellungen und betreten den rückwärtigen Raum, welcher für die logistische Unterstützung eingerichtet wurde. Die Fundamente der Gebäude entlang des Weges sind eindrücklich und zeugen davon, dass die Italiener hier eine grosse Anzahl an Soldaten untergebracht haben.
Wir stossen auf Unterkunftsgebäude und Überreste einer Küchenbaracke – zumindest lässt die Tatsache, dass sich in deren unmittelbarer Nähe eine Unzahl an Konservendosen finden lässt – keinen anderen Schluss zu.
„MACHU PICCHU“ – DAS ALPINIDÖRFCHEN AM FILONE
Die legendäre Inkasiedlung in den peruanischen Anden wurde 1911 entdeckt. So war es wenig verwunderlich, dass sich der Vergleich mit dem Alpinidörfchen am Ausläufer des Filone del Mot aufdrängte, klebt es doch ähnlich seines Vorbilds hoch über dem Val Braulio.
Die Bezeichnung „un vero piccolo machu picchu“ findet sich auch in offiziellen Dokumenten und Tagebüchern, so dass deren Verwendung – auch in Abweichung der unterschiedlichen Dimensionen zum Original – legitim scheint.
Wieviele Soldaten im Alpinidörfchen untergebracht wurden ist nicht abschliessend feststellbar. Wenn wir davon ausgehen, dass hier eine bis zwei Kompanien Unterkunft fanden, liegen wir aber wohl nicht falsch.
Versorgt wurde „Machu picchu“ mittels einer Transportseilbahn aus dem Valle Braulio, deren Talstation bei der 3. Cantoniera stand – unweit des damaligen Kriegerfriedhofs.
Ein kleines „Machu pichu“ am Filone del Mot. Aufnahme 2017.
Italienische Verteidigungsmassnahmen im Valle Braulio
Von der Aussichtswarte des Alpinidörfchens öffnet sich erstmals der eindrückliche Blick in den tiefen Einschnitt des Talverlaufs gegen Bormio. Unmittelbar am Ausläufer des nun steil abfallenden Grates befand sich die zweite Verteidiungsstellung der Italiener.
Auch sie bereiteten sich gegen einen österreichischen Angriff vor und trafen entsprechende Abwehrmassnahmen.
Die italienischen Verteidigungsmassnahmen im Valle Braulio unter Annahme österreichischer Angriffe ins Veltlin (unterbrochene Pfeile). Ergänzte Darstellung aus: Accola, Fuhrer: Stilfserjoch-Umbrail 1914-1918, Dokumentation, 2000, Au-Wädenswil.
Von „machu picchu“ zum rese di scorluzzo
Der Abstieg von „Machu Picchu“ erfolgt über die nordwestliche Flanke – militärisch ausgedrückt überen deren Vorderhang. Entsprechend finden sich hier keine Reste von Stellungsbauten. Lediglich einige Holzbalken und Reste von Maschendraht finden sich entlang der Wegspur. Diese wurden wohl im Verlauf der Jahre durch abgehende Lawinen vom Filone her an ihre heutigen Fundstellen verfrachtet. Historisch sind diese aber nicht relevant.
Mit Erreichen der grünen Hochfläche am Fuss des Monte Scorluzzo – auf Karten als „Piano di Scorluzzo“ bezeichnet – stossen wir hingegen wieder auf italienische Auffangstellungen. Der Verlauf der gradlinig entlang der Kammlinie erstellten Stellungslinie ist trotz der nun wieder vorhandenen Vegetation gut erkennbar. Es ist davon auszugehen, dass die Linie nie durch ein Grabensystem verstärkt wurde, obwohl die Bodenverhältnisse dies hier wieder leicht zugelassen hätten. In Anbetracht des potenziellen österreichischen Angriffsbereichs lässt sich dies aber nachvollziehen. Ein entprechender Angriff hätte vom Gipfel des Monte Scorluzzo über dessen steile und nahezu allen italienischen Geschützen ausgesetzte NW Flanke absteigend erfolgen müssen. Ein äusserst riskantes Vorhaben also.
Das beim Passo delle Plattigiole erklärte „Hufeisenprinzip“ finden wir auch auf dem Piano del Scorluzzo und hier in sehr ausgedehnter Form. Die rechte Flankierung erfolgte vom Filone del Mot aus und die linke ab dem Rese di Scorluzzo, dem markanten NW Grat des namensgebenden Gipfels.
Während einer kurzen Wegstrecke folgen wir dem klaren Bergbach, gesäumt von lieblichen Wollgräsern und biegen dann leicht rechts, kurz aufsteigend ab um den Lago del Scorluzzo zu erreichen. Der Wasserstand des nahezu kreisrunden Bergsees ist schmelzwasserabhängig. Er verfügt weder über einen oberirdischen Zu- noch Abfluss. Entsprechend kann es nicht überraschen, wenn von diesem – im Frühsommer randvollen See – im Spätsommer höchstens noch eine Pfütze vorhanden ist; insbesondere nach regenarmen Sommermonaten.